Anmerkung: Der handlungsorientierte, fächerübergreifender Unterricht in Form von Lernfeldern sowie das selbst organisierte Lernen (SOL) der Schüler ist an bayerischen Berufsschulen nicht mehr wegzudenken. Ursprung dieser "neuen Lernkultur" liegt im Modellversuch FügrU (fächerübergreifender, handlungsorientierter Unterricht), der 1992 von verschiedenen bayerischen beruflichen Schulen unter wissenschaftlicher Begleitung von Prof. Schelten (TU München) durchgeführt wurde.
siehe auch:
Alfred Riedl, Andreas Schelten {In: VLB-akzente 7 (1998) 11, S. 22 – 23}

Handlungsorientierter Unterricht –Anforderungskriterien und Leitfaden für die Konzeption

 

Kritik am Handlungsorientierten Unterricht

es sind nun 10 Jahre vergangen, in denen der handlungsorientierte Unterricht an bayerischen Berufsschulen umgesetzt und praktiziert wird. Insbesondere die lernfeldorientierten Lehrpläne fordern diese Art des Unterrichtens. Während meiner Tätigkeit als Multiplikator und später als stellvertretender Leiter und Dozent der Fachlehrerausbildung in Bayern besuchte  ich zahlreiche berufliche Schulen. An diesen Schulen und am Staatsinstitut in Ansbach beobachtete ich die Umsetzung dieses didaktisch-methodischen Unterrichtskonzeptes und muss rückblickend feststellen, dass die Umsetzung zum großen Teil nicht vollständig gelungen ist. Zum einen waren die Lehrer z. T. nicht fähig, richtig in diesen Unterricht einzuführen, den Schülern vorher Arbeitstechniken zu vermitteln und erfahrbar zu machen, zum anderen wurden die Phasen des Unterrichts nur halbherzig durchgeführt. Insbesondere die Phase der Kontrolle (oder Reflexion) der Ergebnisse war in nur wenigen  Unterrichten zu beobachten, obwohl das aus meiner Sicht die wichtigste Phase dieser Unterrichtskonzeption ist.
Bei einem gastronomischen "Vorzeigeprojekt" einer Berufsschule durfte ich ein Drei-Gänge-Menü als Ergebnis der Schüler genießen und alle freuten sich, wie toll dieses Projekt war. Auf meine Frage, wann den die Reflexion stattfindet, bekam ich zur Antwort: "Das machen wir später." Es wurde aber weder später reflektiert oder gar systematisch die Arbeitsweisen jedes Schülers beleuchtet oder besprochen. Man ließ die - für die Schüler - wichtigste Phase einfach weg.
Auch bei den Schülern konnte man Nachteile dieses Unterrichts beobachten. Einige möchte ich im Folgenden kurz beschreiben.

1. Orientierungslosigkeit bei den Schülern
2. Arbeitsunlust aufgrund gleicher methodischer Ausrichtung (selbst organisiertes Lernen, "Projektarbeit", etc.)
3. Oberflächlichkeit bei der Erarbeitung von Wissen und Erlangung versch. Kompetenzen

zu 1. Orientierungslosigkeit bei den Schülern

In allen Klassen und Schulen, die ich im Unterricht besucht habe, wurde der Unterricht mit Hilfe von Arbeitsblättern oder Arbeitsanweisungen eingeführt. Typische Arbeitsaufträge waren z. B.
- Nenne vier Vorteile/Nachteile des ....
- Erkläre die Bestandteile von....
- Welche Nachteile haben...
- Erstelle ein Konzept für ...

Die Schüler sitzen vor diesen Aufgaben und fragen sich: "Was sollen wir denn machen?" Bei dieser Fragestellung kein Wunder; denn - woher sollen Schüler denn z. B. die Vorteile/Nachteile von bestimmten Sachen kennen oder wissen? Sie können es nachlesen, aber das ist nicht der Sinn des handlungsorientierten Unterrichts! Im HoU sollten die Schüler die Vorteile durch ihr Handeln "erfahren" - und nicht selbständig in Büchern nachschauen. Da dies den Schülern auch nicht bewusst ist, fragen sie sich zu Recht: "Woher soll ich Vorteile/Nachteile von etwas wissen, was ich nie kennen gelernt oder ausprobiert habe?" Sinnvoll wäre hier mit geeigneten Methoden den Lerninhalt "erfahrbar" zu machen, also z. B. die Vorteile einer bestimmten Anwendung durch Ausprobieren wirklich selbst festzustellen und im Anschluss über die Erfahrung und den Weg dorthin zu reflektieren. So lässt sich der handlungsorientierte Unterricht auch aus lerntheoretischer Sicht (Lernen aus Erfahrung, experimentelles Lernen u. a.) gewinnbringend umsetzen. Damit lernen die Schüler auch besser was wichtig oder unwichtig ist. Woher soll ein zu Erziehender eigentlich wissen, was für dieses Fach wichtig oder unwichtig ist? Erst durch die eigene Erfahrung (oder durch einen vom Lehrer vorgegebenen Hinweis) lässt sich dieses Wissen aneignen.
In der Schule sieht es häufig anders aus. Es wird nur theoretisch mit Hilfe von Büchern, Katalogen oder anderen Unterlagen nachgeschlagen und in Arbeitsblättern eingetragen und - wenn die Zeit reicht - die Arbeitsergebnisse mit Hilfe von Folie und/oder Plakat den Mitschülern präsentiert. Die Schüler sind ständig gezwungen, die gleichen methodischen Arbeiten zu verrichten. Das führt mich zum nächsten Punkt;

zu 2. Arbeitsunlust aufgrund gleicher methodischer Ausrichtung

Als ich an der Ludwig-Erhard-Schule den HoU bei meinen Klassen als Gesamtkonzept einführte, musste ich mir immer wieder einmal anhören: "Können wir nicht einmal etwas anderes machen? - Immer nur selbständig arbeiten. Warum halten Sie nicht einmal wieder Unterricht?"
Diese Fragestellung der Schüler hat sich bis heute nicht verändert und ist ebenfalls nachzuvollziehen. Wie ein permanenter lehrerzentrierter Unterricht ist ein dauerndes selbständiges Arbeiten anstrengend und nicht abwechslungsreich- führt folglich auch zur Übermüdung und Unlust bei den zu Erziehenden.
Die Arbeitsunlust war deutlich spürbar und ist verständlich. Insbesondere auch deswegen, weil viele Dozenten und auch Lehrer die typischen Lehrbücher als Informationsquelle zur Verfügung stellen. Hier ist festzuhalten, dass diese meist für Schüler zu "hoch" sind, d. h. die fachlichen Inhalte und die Fachbegriffe werden zum Teil überhaupt nicht verstanden, so dass die Arbeitsaufträge auf die Schnelle bearbeitet werden, um möglichst zügig über diese "Schwachstelle" hinwegzugehen. So komme ich

zu 3. Oberflächlichkeit bei der Erarbeitung von Wissen und Erlangung versch. Kompetenzen


Wie bei 1. und 2. bereits kurz angedeutet, müssen die Schüler ihr Wissen aus den gängigen Lehr-/Schulbücher oder einer speziellen Fachliteratur erarbeiten. Diese Bücher sind zum Teil für den handlungsorientierten Unterricht nicht geeignet, weil sie für die Unterrichtsnachbereitung verfasst wurden und nicht zur Informationsgewinnung. Das hat zur Folge, dass die Schüler ihre Lösungen eigentlich nur aus den Büchern abschreiben. Wenn beispielsweise in einem Arbeitsblatt nach den Vorteilen einer bestimmten Arbeitsmethode gefragt wird, schauen die zu Erziehenden im Lehrbuch nach, suchen sich die Vorteile der Arbeitsmethode heraus und schreiben diese unreflektiert ab. Da - wie oben bereits ausgeführt - die Reflexionsphase viel zu kurz kommt und auch während der Präsentation keinerlei Vertiefungsfragen von der Lehrkraft an die Vortragenden gestellt werden, reduziert sich der Unterricht somit auf das Lesen eines Arbeitsblattes und Abschreiben unspezifischer Inhalte. Inhaltliches Wissen wird somit nur oberflächlich angeeignet.
Und selbst wenn Schüler sich intensiver mit den Lehrbüchern auseinandersetzen, bleibt ein gravierender Nachteil bestehen. Das Erfahrungswissen der Lehrkraft liegt absolut brach. Man muss sich das vorstellen! Lehrer an beruflichen Schulen sind Fachleute. Die Fachlehrer haben alle in ihrem speziellen Gewerk eine Meister- oder Technikerausbildung sowie eine langjährige Berufserfahrung. Ebenso die Kollegen/innen des höheren Dienstes, die häufig eine Lehre vor ihrem Studium abgeschlossen haben. Dieses immense Fachwissen sowie die berufliche Erfahrung der Lehrer bleiben den Schülern größtenteils verschlossen.
Es wird von den Verfechtern des absoluten handlungsorientierten Unterrichts bemerkt, dass es nicht mehr auf das Fachwissen ankomme und andere Kompetenzen - beispielsweise das Erlangen einer Sozialkompetenz durch Teamarbeit - im Vordergrund stünde. Ein unsinniges wie absolut falsches Argument. Im Berufs- bzw. Geschäftsleben kommt es immer noch auf fachliche Kenntnis an. Nur wer fachlich fit ist, kann seine Kunden beraten, kann qualifiziert arbeiten und gute Ergebnisse liefern. Natürlich ist auch eine gewisse Sozialkompetenz im Beruf notwendig, z. B. in Form eines kollegialen Umganges. (Ich vermeide hier den Begriff "Team", da er m. E. von den Betrieben als auch von den Schulen völlig falsch verwendet wird und häufig auf den Begriff des "kollegialen Umganges" reduziert werden kann.)
Aber diese Sozialkompetenz lässt sich nur ansatzweise in der Berufsschule vermitteln, da die Schüler nur an einem Tag in der Institution sind (oder wenige Wochen im Block) und sich viel zu wenig kennen, um miteinander sinnvoll in Beziehung zu treten. Da ändert eine Gruppenarbeit auch nur wenig, insbesondere dann, wenn die Gruppenprozesse überhaupt nicht begleitet und reflektiert werden. Für diese Arbeit fehlt aber häufig die Zeit und es fehlen die organisatorischen Bedingungen.
Punkte, die sicherlich diskussionswürdig sind, aber hier zu einem anderen Zeitpunkt aufgeführt werden.
Für mich bleibt das momentane Fazit, dass der handlungsorientierte, fächerübergreifende Unterricht an bayerischen Berufsschulen angekommen ist, es aber noch eine Menge Arbeit und Engagement in Schule und Betrieb bedarf, um die wirkliche Idee des Konzeptes tatsächlich gewinnbringend für die Schüler umzusetzen.


Für Kritik und Anregungen bin ich dankbar und jederzeit offen. Schreiben Sie in mein Gästebuch oder schicken Sie eine E-Mail an info@klaus-reiser.de.
 

Weiterführende Literatur und Links:

Peter Faulstich    Deutsches Institut für Erwachsenenbildung     November 2003
Lernen braucht Support – Aufgaben der Institutionen beim „Selbstbestimmten Lernen

 

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